Fürst Metternich: Skeptischer und weitsichtiger Europäer

Weit mehr als nur „reaktionär“
Fürst Metternich: skeptischer und weitsichtiger Europäer

Von Joachim Peters

Der Autor besprach im Rahmen des Programms „Mitglieder des Alsdorfer Geschichtsvereins stellen neue Bücher vor“ am Donnerstag, 8. Dezember, 19.30 Uhr, in der Stadtbücherei der Stadthalle Alsdorf:
Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. C.H.Beck-Verlag München 2016, rund 1000 Seiten (inklusive Karten, Anmerkungen und Literaturverzeichnis).

1. Ein Historiker sagte und schrieb jüngst, dass alle paar Generationen die Geschichte eines großen Mannes umgeschrieben werden muss – zwar nicht im Sinne einer Total-Revision, aber in dem Sinne, dass eine bisher weitgehend unbearbeitete Seite des Porträtierten stärker in den Vordergrund gerückt wird oder werden sollte.
Als Maßstab gilt dabei ein Zeitabstand von rund 30 Jahren. So verortete im Falle Bismarcks etwa Lothar Gall Anfang der achziger Jahre den Helden seiner Biografie in das bürgerliche Zeitalter und nannte ihn einen bewahrenden, weißen – im Gegensatz zu einem roten – Revolutionär.
Johannes Willms dagegen sah Bismarck 30 Jahre später sehr kritisch als „Dämon der Deutschen“, der eine verhängnisvolle Machtpolitik in Gang gesetzt habe. Ähnliche Schwankungen gibt es im Bilde Napoleon Bonapartes. Über einen Staatsmann dagegen schien schon seit der bahnbrechenden Biografie des Österreichers Heinrich Sbrik vor 91 Jahren schon alles gesagt: Clemens Fürst von Metternich wurde der Nachwelt als Opprtunist ohne Grundsätze, als intriganter Strippenzieher beim Wiener Kongress, als reaktionär und Begründer eines
Gedankenfreiheit mundtot machenden Polizeistaates überliefert. Ich selbst erinnere mich noch an den Geschichtsunterricht zu Ende der Mittelstufe, als Metternich als Personifikation des Rückwärtsgewandten in den Schulbüchern erschien, während die nationale Bewegung vom Wartburgfest bis hin zur Frankfurter Paulskirchen-Versammlung als das schlichtweg Positive und Fortschrittliche hingestellt wurde.

2. Rund ein Jahrhundert also nach der letzten Metternich-Biografie, unter Berücksichtigung bisher unbearbeiteter diplomatischer Quellen und privaten Aufzeichnungen Metternichs sowie im jüngsten Erleben der bedenklichen Seiten eines aggressiven Nationalismus und einer aus den Fugen geratenen Welt, hat der Historiker Wolfram Siemann jüngst ein Werk vorgelegt, das m.E. Epoche machen wird.
Der im westfäischen Witten geborene, emeritierte Professor für Neue und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München nennt seine im Februar diesen Jahres im C.H. Beck-Verlag erschienene Biografie:
Metternich – Stratege und Visionär.
Der Untertitel verrät bereits, dass man nach der geduldigen, aber jederzeit spannenden und lohnenden Lektüre des 875-Seiten-Werkes sein überkommenes Metternich-Bild ändern sollte. Zwar kann man auch nach der Lektüre nicht wegdiskutieren, dass das Herrschaftssystem des leitenden österreichischen Staatsministers Clemens Fürst Metternich einen Polizei- und Überwachungsstaat hervorbrachte, der vor allem nach den preußisch-österreichischen „Karlsbader Beschlüssen“ von 1819 auf andere Staaten des 1815 begründeten Deutschen Bundes ausstrahlte. Doch das Buch von Wolfram Siemann weist sowohl nach, dass ein Polizeistaat im 19. Jahrhundert in der Überwachung seiner Untertanen
von der Idee wie der Durchführung weit weniger effizient und lückenlos war, wie autoritäre Systeme noch jüngerer Staaten, wie etwa die DDR mit ihrer Stasi – von totalitären Systemen ganz zu schweigen. Zudem stammt die Übernahme überwachungsstaatlicher Maßnahmen nicht vom vormodernen ancien regime, als dessen Fortsetzung die Metternichsche „Restauration“ – fälschlicherweise – gesehen wird.
Netzwerkartige Überwachung, Repressionen gegen Andersdenkende hat es in perfekterer Weise schon unter Metternichs Gegenspieler Napoleon gegeben, der wiederum auf Vorbilder der Französischen Revolution zurückgriff. Im übrigen: Der sich zu systematischem Terror steigernde Polizeistaat war eine Frucht fanatischer Überdreher der Ideen von Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit, und nicht des überkommenen Bündnisses von Thron und Altar.

3. Die Wiederherstellung dieses Bündnisses von Thron und Altar (Stichwort: „Heilige Allianz“) und die Installierung eines Mächte-Gleichgewichtes in Europa (Stichwort: „Pentarchie“) waren für Metternich als Hauptarchitekten des Wiener Kongresses 1815 und der nach-napoleonischen Friedensordnung Hauptziele. Es ging ihm dabei nicht um die 1-1-Wiederherstellung der Verhältnisse vor 1789.
Der weitgereiste Diplomat an den Höfen in Dresden und Berlin sowie beim Empereur Napoleon in Paris war sich bewusst, dass sich die sozialen Verhältnisse grundlegende geändert hatten und dass der europäische Adel – dem er als Reichsgraf einer ursprünglich aus Koblenz stammenden Familie in kaiserlichen Diensten angehörte – durch Reformunwilligkeit die Revolution von 1789 mit herbeigeführt
hatte. Als Vorbild einer gelungenen Verbindung von alt und neu – von Tradition und Reform – sah er das konstitutionelle System in Großbritannien mit Monarchie und Parlamentarismus an. „Wenn ich nicht Österreicher wäre, würde ich gerne ein Engländer sein“, sagte der begeisterte England-Reisende, der gemeinsam mit seinem früheren Außenminister-Kollegen und persönlichen Freund Castlereagh die Strippen auf dem Wiener Kongress zog. Allerdings war Metternich kein Engländer, sondern musste die Eigentümlichkeiten der Habsburger-Monarchie mit ihren dynastischen Interessen und ihren verschiedenen Völkern berücksichtigen.
Metternich strebte einen föderativen Staat, der historische Traditionen berücksichtigte, unter einer starken Spitze an. Die Ideen von politischem Liberalismus und „Völkerfrühling“, der 1848 zu Aufständen und Revolutionen führte und Metternich nach fast drei Jahrzehnten sein Amt als Staatskanzler kosteten, lehnte er ab, weil sie zum Sprengsatz der Vielvölker-Monarchie werden würden. Metternich hatte die Sprengkraft eines aggressiven Nationalismus, der unter der ideellen oder ideologischen Fahne freiheitlicher Ideen und unter Führung eines charismatisch-dämonischen Feldherrn marschiert, hautnah erlebt. In die Zukunft projiziert, spürte er die Angst, dass Liberalismus und Nationalismus erneut die Brandfackel nach Europa tragen würden.

4. Die alte Sichtweise sieht in Metternich den Hauptvertreter einer europäischen Politik herzloser Völkerunterdrückung. Gewiss, unter Metternichs Regie wurden Erhebungen im habsburgischen Italien niedergeschlagen. Seine Polizei verhinderte Solidarisierungen in Deutschland für den polnischen Aufstand 1830 gegen die zaristische Besatzung. Er war der Meinung, dass die Entstehung weiterer Staaten die Wiener Nachkriegsordnung und damit das nach der Hegemonie Napoleons mühsam wiederhergestellte Gleichgewicht Europas gefährden könnten.
Allenfalls eine Art kulturelle Autonomie innerhalb der übernationalen Mächte Russland, Österreich-Ungarn, Türkei und Preußen konnte sich Metternich vorstellen. Die erreichte er etwa für das polnische Galizien innerhalb der Habsburger-Monarchie. Russland selbst, das als Verbündeter im Gleichgewichtssystem unverzichtbar war, konnte und wollte er indes gleiches für dessen polnische Besitzungen nicht vorschreiben. Das Fürstentum Warschau und der Moskowiter Thron waren in Personalunion vereint – zweifellos eine sehr fragwürdige „Autonomie“! Realpolitik und Verantwortungsethik im Sinne Max Webers hatten bei Metternich immer Vorrang vor einer Gutmensch-Rhetorik, die Freiheit und Rechte der Nationen absolut setzte und dabei auch internationale Verwicklungen und Kriege in Kauf nahm. Metternich gehörte daher auch zu den wenigen, der sich innerlich nicht entzünden ließen,  als die Griechen in den 1820-er Jahren die „Fackel der nationalen Befreiung“ nahmen, wie  es damals pathetisch hieß. Zum einen, weil durch die Herauslösung Griechenlands aus dem Osmanischen Reich ein Imperium des Gleichgewichtssystems geschwächt und ein anderes – Russland – gefährlich gestärkt wurde. Mit russischer Waffenhilfe und der Unterstützung Englands, das inzwischen mehr Gesinnungs- als Realpolitik betrieb – entstand der
neuhellenische Staat und in dessen Verfolg dehnte Russland auch seinen Einfluss in den von orthodoxen Christen bewohnten Territorien des Osmanischen Reiches aus. Dieser von idealistischen Parolen wie „Befreiung der Glaubensbrüder“ und „Befreiung der slawischen Völker“ begleitete russische Imperialismus führte durch Gebietsverluste der Türkei und der Destabilisierung der Habsburgermonarchie im Innern durch slawisch-nationalistische Agitatoren mit zu den Folgen, die 1914 in den Ersten Weltkrieg einmündeten.

5. Metternich hat als wahrhafter Europäer diese Gefahren früh gesehen. Sein Biograf nennt ihn einen „Vormodernen“ und einen „Postmodernen“ – und daher war er kein „Zeitgemäßer“ im freiheitsdurstigen nationalistischen 19. Jahrhundert. „Vormodern“ war er insofern, als er als Reichsgraf, der in Frankfurt noch zwei Kaiserkrönungen erlebte, dem alten überkommenden System angehörte. Dieses System war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das nach seinem Ende 1806 quasi transformiert wurde in das Kaiserreich Österreich. Der letzte römisch-deutsche Kaiser Franz 2. wurde der österreichische Kaiser Franz 1., mit dem Metternich eine seltene private Freundschaft und politische Loyalität verband. Es war ein Vertrauens-Verhältnis, vergleichbar etwa dem von Fürst Bismarck und Kaiser Wilhelm I. Das Heilige Römische Reich war kein nationalistisches, sondern ein übernationales Imperium. Es gab darin Territorien wie unser früheres Herzogtum Limburg, in dem deutsch, niederländisch und französisch gesprochen wurde. Sprache, Herkunft oder gar Rasse waren kein Unterscheidungsmerkmal für Untertanen oder Bürger eines Territoriums im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Metternich dachte und sprach kosmopolitisch. Wenngleich auch in altertümlichen standesmäßigen Vorstellungen befangen, war Metternichs Denken auch wieder modern, europäisch. In heutiger Zeit wäre er sowohl ein Gegner eines europäischen Hegemons als auch nationaler Auswüchse und Alleingänge gewesen. Gleichgewichtspolitik („The balance of power“, „equilibrium“) und Krisenmanagement wären wohl seine Sache gewesen. Wobei zu einem europäischen Krisenmanagement auch eine Autorität gehören müsste und muss, wie sie damals ein hochgebildeter und mit Geschichte und Ökonomie gleichermaßen vertrauter Diplomat wie Metternich war.

6. Metternich erkannte früh die Gefahren eines aggressiven oder intoleranten Nationalismus, mochte der noch so idealistisch daherkommen. Denn es gibt kaum Staaten in Europa, die sich rein auf das Kriterium „Nation“ zurückführen lassen. Besonders im Osten gibt es viele Minderheiten – die Ungarn in Rumänien, die Bulgaren in Griechenland, die Serben im Kosovo – und ein strikter Nationalismus würde Entrechtung bedeuten, selbst wenn er sich auf Parlamentsbeschlüsse beziehen würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Clemens Fürst Metternich etwa in der Jugoslawien-Krise des 1991 alle diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt hätte, um den Zerfall des Vielvölkerstaates zu verhindern. er, der in der früheren Geschichtsschreibung als Reaktionär geschmäht wird, hätte diesen Vorwurf freiheitsbewegter Nationalisten an sich abprallen lassen. Ein Jugoslawien in der Tradition Titos, zwar straff und daher nicht westlich-demokratisch, sprich politisch korrekt, geleitet, aber die Rechte der unterschiedlichen Nationen und damit auch Religionen respektierend, hätte er dem darauf folgenden Freiheitskampf, erkämpft zu hehren Parolen und unter ethnischen Gräueln, vorgezogen.
Fürst Metternich hätte, wäre er Zeuge des „Völkerfrühlings“ vom Fall der Berliner Mauer bis zum Ende Jugoslawiens oder auch der Sowjetunion geworden, die Worte eines sensiblen Zeitgenossen und Landsmannes zitiert. Der Dichter Franz Grillparzer, ein Kenner der komplizierten Geschichte des alten multinationalen Habsburgerreiches, befürchtete noch zu Lebzeiten des Fürsten: „Der Weg der modernen Bildung führt von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität“.

7. Nicht nur im politischen, auch im wirtschaftlich-sozialen Bereich lässt sich das Vorurteil von Metternich als „Reaktionär“ nach der Lektüre des Buches von Wolfram Siemann nur schwerlich aufrecht erhalten. Durch die Französische Revolution, die Mediatisierungen und Säkularisierungen des Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und die territoriale Arrondierung des durch Napoleon zum Königtum erhobenenen früheren Herzogtums Württemberg waren der Familie Metternich alte Besitzungen an Rhein und Mosel ebenso verlorengegangen wie das als Ersatz dafür zugesprochenene Fürstentum Ochsenhausen, das in den 1820-er Jahren endgültig an das Königreich Württemberg fiel. Als Kompensation dafür erhielten die Metternichs – Fürst Clemens war 1821 seinem Vater als Oberhaupt des Familienbesitzes nachgefolgt – in Böhmen zusätzliche Güter zugewiesen. Nach dem Verlust der rheinischen Gebiete in den 1790-er Jahren war der Besitz im böhmischen Königswart Mittelpunkt der Familie geworden, die damit auch räumlich näher an den Wiener Hof heranrückte.
Nun kam nach dem Wiener Kongress die nahegelegene Domäne Plass hinzu, wo sich seitdem auch die Familiengruft der von Metternichs befindet. Im böhmischen Plass entwickelte sich Metternich zu einem frühindustriellen Fabrikanten und Unternehmer, förderte in Bergwerken Erz und Steinkohle zutage. Der scheinbar rückständige und agrische Reichsgraf erwies sich hierin als fortschrittlich. Die Erfahrungen und Beobachtungen in England bei seinen verschiedenen Reisen folgten dabei zu Nachahmungen dort, wo er sie für nötig befand ebenso wie zur
Ablehnung von Auswüchsen des Manchester-Kapitalismus und seiner Pauperisierung der Arbeiter. Metternich verstand sich im altertümlichen wie väterlichen Sinne als „Sozialpatriarch“ – als zwar keine Kritik duldender Herr seiner Arbeiter, aber gleichzeitig als fürsorglicher Patron, der das Auskommen seiner Untertanen sicherte und dabei Anfänge für das legte, was wir heute sozialen Wohnungsbau nennen. Solche Arbeiter – und das war der positive Nebeneffekt – wären und waren auch weniger für die Ideen der Revolution anfällig, die Metternich neben den Auswüchsen des Nationalismus bekanntlich über alles fürchtete.

Joachim Peters bei seiner Vorstellung

Joachim Peters bei seiner Vorstellung